Fábrica de Culpables – Das Fabrizieren von Schuldigen: Bericht über Knastbesuche in Chiapas, Mexiko

Veröffentlicht in Rote Hilfe Zeitung 02/25

Zwei zwei Compañeros halten ein Transparent mit der Aufschrift: Gemeinde von San Juan Cancuc, Chiapas, Mexiko. Wir fordern die bedingungslose Freiheit der politischen Gefangenen: 1. Manuel Santiz Cruz (Menschenrechtsverteidiger), 2. Juan Velasco Aguilar, 3. Agustín Pérez Domínguez, 4. Martín Pérez Domínguez, 5. Agustín Pérez Velasco. Der Kampf geht weiter…

Der Besuch


Mit einem kleinen LKW fahren wir etwa eine halbe Stunde außerhalb von San Cristóbal de las Casas zum Gefängnis. Wir sitzen zusammen gepresst auf kleinen Bänken in der Ladefläche unter einem Aufbau mit einer Plane. San Cristóbal, die ehemalige Hauptstadt des Bundesstaates Chiapas, erlangte durch den zapatistischen Aufstand von 1994 weltweite Berühmtheit. Bis heute bewegt sich die Stadt in einem Spannungsfeld zwischen Widerstand und Tourismus. Begleitet werden wir von einigen Internationalist*innen und dem Kollektiv Grupo de Trabajo No Estamos Todxs, das den Besuch organisiert hat.

Das Kollektiv verfolgt zwei zentrale Ziele: Erstens unterstützt es die Gefangenen im Haftalltag mit medizinischen Hilfsmitteln, Lebensmitteln und Hygieneprodukten. Denn im dortigen Gefängnissystem müssen die Gefangenen fast alles selbst bezahlen und dafür arbeiten. Zweitens setzt sich das Kollektiv politisch dafür ein, den Kampf der Gefangenen sichtbar zu machen. Es unterscheidet dabei drei Arten politischer Gefangener: solche, die sich im Gefängnis organisieren, um für ihre Rechte zu kämpfen; solche, die Opfer politischer Repression wurden; und solche, die aus anderen Gründen inhaftiert sind, die als politisch motiviert betrachtet werden. Gleichzeitig lehnt das Kollektiv Gefängnisse grundsätzlich als Instrument der Unterdrückung ab.

Um das Gefängnis betreten zu können, melden wir uns zunächst in einem provisorisch wirkenden Gebäude aus Wellblech und Holz an. Die bürokratischen Formalitäten übernimmt größtenteils das Kollektiv. Von uns werden Fotos gemacht, und wir müssen unsere Ausweise vorzeigen. Anschließend erhalten wir ein grünes Holzstück mit einer Nummer, das als Besucher*innen-Ausweis dient.

Im nächsten Schritt werden unsere Habseligkeiten und die mitgebrachten Dinge zur Unterstützung der Gefangen durchsucht. Darunter befinden sich Kaffee, Zucker, Toilettenpapier, Zahnpasta, Medizin, Shampoo, Tee und Material zum Häkeln. Mit dem Häkeln von Taschen, Geldbörsen und anderen Gegenständen verschaffen sich die Gefangenen das notwendige Geld für ihren Lebensunterhalt im Gefängnis.

Dann dürfen wir das eigentliche Gefängnis betreten. Hier werden wir einzeln in einem kleinen Raum durchsucht. Die meisten Gefangenen halten sich auf dem Außengelände des Gefängnisses auf. Um zu den Personen zu gelangen, die wir besuchen möchten, müssen wir in einen separaten Bereich und dort erneut unsere grüne Karte vorzeigen. Diese wird später auch dazu benötigt, um das Gefängnis wieder zu verlassen.

Das Außengelände erinnert fast an einen Park. Dort sitzen viele Gefangene mit ihren Familien, die sie freitags, samstags und sonntags besuchen dürfen. Die Wachen betreten diesen Bereich in der Regel nicht. Wir treffen die Gefangenen entweder in einer kleinen Kapelle oder im Essensraum. Auf dem Weg dorthin passieren wir Verkaufsstände mit Handarbeiten und Essen, ein Basketballfeld sowie Schlafräume, die aus kleinen Holzverschlägen bestehen.

Was sofort auffällt: Es gibt kaum sichtbares Wachpersonal. Die Gefangenen, die es sich leisten können, kochen selbst – einschließlich der Nutzung von Messern und anderen Gegenständen, die in Gefängnissen normalerweise als gefährlich gelten. Es wird schnell klar: Wer mehr Geld hat, kann sich im Gefängnis ein besseres Leben leisten.

Haftalltag und Allgemeines zum Knast

Wer die Kosten für die Haft nicht selbst tragen kann, muss im ersten Jahr rund um die Uhr Zwangsarbeit verrichten. Die Tage beginnen früh: Um 5 Uhr stehen die Gefangenen auf und beginnen mit körperlich anstrengenden Arbeiten wie dem Tragen von Wasserbehältern und Steinen oder der Reinigung von Latrinen. Frühstück gibt es um 8 Uhr, Mittagessen um 14 Uhr und Abendessen um 17 Uhr – meist nur bestehend aus Kaffee und Brot. Nach dem ersten Jahr haben die Häftlinge mehr Freizeit, müssen sich jedoch weiterhin ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Viele fertigen Kunsthandwerk wie Hängematten oder Beutel an, um ihr Leben im Knast zu finanzieren. Wohlhabendere Insassen oder diejenigen mit finanzkräftigem Besuch können sich hingegen ein bequemeres Leben erkaufen.

Das Gefängnispersonal zeigt kaum Interesse an den Insassen. Kranke erhalten oft erst dann Aufmerksamkeit, wenn ihre Beschwerden nicht mehr ignoriert werden können. Dennoch ist die medizinische Versorgung schlecht. Generell gilt: Das Personal tut nur das Nötigste, es sei denn, Menschenrechtsorganisationen oder NGOs üben Druck aus. Wer sich mit solchen Organisationen engagiert, muss jedoch mit Einschüchterungen und Schikanen rechnen. Die Gefangen müssen dabei hartnäckig sein, um als Aktivist anerkannt zu werden – doch wer es schafft, kann tatsächlich Verbesserungen im Haftalltag bewirken.

Im Gefängnis gibt es in den verschiedenen Bereichen Gefangene die, die anderen „repräsentieren“ – die sogenannten Precisos. Diese sind oft langjährige Gefangene mit einem gewissen Standing. Ihnen muss man sich gewissermaßen unterordnen, insbesondere wenn es zu Streitigkeiten kommt. Oft haben diese auch Beziehungen zu den Narcos (Mitglieder von Drogenkartellen) oder arbeiten sogar mit diesen zusammen.

Die „Schuldigen“ / „Culpables“


Im Gefängnis treffen wir vier der fünf tzeltal-indigene Compañeros aus San Juan Cancuc. Alle fünf wurden zu 25 Jahren Haft verurteilt. Die vier, die wir treffen, heißen Juan Velasco Aguilar, Agustín Pérez Domínguez, Martín Pérez Domínguez und Agustín Pérez Velasco. Den bekannteren Menschenrechtsverteidiger Manuel Santiz Cruz, der sich schon lange gegen kapitalistische Infrastrukturprojekte in Chiapas engagiert, sehen wir nicht – er fürchtet, durch politische Aktivitäten und Kontakte eine Verlängerung seiner Haftzeit zu riskieren.

Durch kommunale Selbstorganisierung haben sie sich gegen die Militarisierung ihres Territoriums und die Errichtung von Megaprojekten gewehrt. Laut dem renommierten Menschenrechtszentrum Frayba (Centro de Derechos Humanos Fray Bartolomé de Las Casas) sind die fünf inhaftiert, weil die offizielle „Indigene Staatsanwaltschaft“ ein Delikt erfunden hat. „Sie wurden alle wegen schweren Mordes verurteilt, obwohl die Beweise nicht stimmig sind, da es sich um ein erfundenes Verbrechen handelt.“

Dass es fünf Maya-Indigene trifft, ist kein Zufall, sondern ein häufig zu beobachtendes Resultat strukturellen Rassismus. In der Regel lernen sie Spanisch als eine Zweitsprache, und viele sprechen nur wenig Spanisch. Dadurch ist das Verständnis ihrer rechtlichen Lage und ihre Verteidigung deutlich erschwert. Oft arbeiten Polizei, Militär und andere staatliche Organisationen zusammen, um politische Aktivitäten zu unterdrücken. So kommt es systematisch zu willkürlichen Festnahmen, die darauf abzielen, die Verteidigung der Menschenrechte, des Landes und des Territoriums exemplarisch zu bestrafen.

Der Kampf vor Ort dreht sich in diesem Falle konkret um die sogenannte Carretera de las Culturas. Dieses Infrastrukturprojekt ist eine Art Superautobahn und soll die Städte Palenque und Pijijiapan an der Küste von Chiapas miteinander verbinden. Es war ursprünglich Teil des noch umfassenderen Plans: des Centro Integralmente Planeado (CIP) Palenque-Cascadas de Agua Azul, eines Megaprojekts mit einer Fläche von 1.400 Hektar. Bis 2020 sollte es 14 Millionen Touristen anziehen und eine Hotelkapazität von 8.350 Zimmern bieten. Kritiker*innen sehen in diesem Vorhaben ein Projekt transnationaler Unternehmen, das zur Enteignung indigener Territorien führen würde. Aufgrund des Widerstands indigener Gemeinden im Norden des Bundesstaates konnte es bisher nicht umgesetzt werden. Allerdings hat der Kongress (Parlament) von Chiapas 2019 das zuvor stillgelegte CIP Palenque-Cascadas de Agua Azul teilweise wiederbelebt und den Bau der Superautobahn genehmigt. Diese wurde um etwa 300 Kilometer verlängert, um die Küste von Chiapas einzubeziehen. Die Autobahn soll unter anderem eine Verbindung schaffen, um Palenque und die dortige Station des Tren Maya mit Zentralamerika zu verknüpfen.

Zu Besuch

Trotz der harten Haftbedingungen, gesundheitlicher Probleme und des entbehrungsreichen Alltags wirken die fünf Compañeros auf mich erstaunlicherweise nicht deprimiert. Wir sitzen zusammen mit ihren Angehörigen – darunter Frauen und Kinder – trinken Kaffee und essen Kekse. Nach deutschen Maßstäben ist der Kaffee mit sehr, sehr viel Zucker gesüßt. Währenddessen wird geplaudert und sich ausgetauscht.

Für die Angehörigen der Gefangenen ist jeder Besuch mit großen Anstrengungen verbunden. Viele müssen weite Strecken zurücklegen, was für sie eine erhebliche finanzielle Belastung darstellt. Hinzu kommt, dass das Einkommen oder die Arbeit der inhaftierten Person für die Familie wegfällt. Oft führt auch die gesellschaftliche Stigmatisierung dazu, dass sich das soziale Umfeld distanziert. Einer der fünf hat durch seine Verurteilung fast den gesamten Kontakt zu früheren Bekannten verloren. Umso mehr freut er sich über unseren Besuch und gemeinsame Aktivitäten wie Schachspielen.

Im Laufe der Zeit stoßen weitere Gefangene zu uns. Einige interessieren sich für die Arbeit von Grupo de Trabajo No Estamos Todxs (Arbeitsgruppe: Wir sind nicht Alle*), andere bitten um Unterstützung. Nach ein paar Stunden endet unser Besuch, und wir verabschieden uns bis zum nächsten Mal, bevor es nach San Cristóbal zurückgeht. Auch dies kann also im ganz Kleinen eine praktische internationalistische Solidarität in Chiapas bedeuten.

Freiheit für die fünf gefangenen Compañeros aus San Juan Cancuc, Chiapas!

Mehr Infos zu den Gefangenen und ihrer Unterstützungsarbeit findet Ihr hier: frayba.org.mx/presos-tseltales

Website von Grupo de Trabajo No Estamos Todxs: noestamostodxs.tk